Ich unterhalte mich mit Literaturfiguren oftmals anregender, als mit Menschen, die mir im sogenannten „wahren“ Leben begegnen. Das „Reale“ ist allenfalls geeignet für neuen Stoff eines Romans. Der Alltag ist eine langweilige Geschichte, die niemand lesen will. Erst wenn das Alltägliche zum Drama verfasst und niedergeschrieben wird, bekommt es Farbe. Nicht die Kunst imitiert das Leben, sondern umgekehrt. Wir würden einen exzellenten Sonnenuntergang gar nicht wahrnehmen, die bunten Flügel der Schmetterlinge nicht beachten, wenn nicht zuvor Literaten oder Dichter ausdrucksvolle Sätze dazu verfasst hätten. Worte der Poesie sind Augen der Seele. Gäbe es überhaupt Liebe ohne einen Liebesroman? Liebe ist ein reines Kunstprojekt, nach dem wir leben und fühlen. Es ist bezeichnend für den Stumpfsinn der Regierungen, dass ausgerechnet Kunst und Kultur ausgesperrt werden und das Langweiligste und Ordinärste, nämlich die Wirtschaft weiter frei agieren darf. Vielleicht verlieren wir am Ende der Pandemie unsere sprachliche Ausdrucksform, zum Beispiel einen Sonnenuntergang zu beschreiben, vielleicht büßen wir, durch mangelnde Kunst, die Fähigkeit ein, unseren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, vielleicht verfallen wir am Ende in eine Art Demenz und wissen nicht mehr, wer wir sind und wohin wir wollen.
