Ich stelle die roten Rosen in das Glas, aus dem er trank, davor lege ich das Bild mit seinem Gesicht. Eine weiße Kerze steht daneben – sie brennt nicht.
Werner ist tot! – Die Zeit ist so lang, wie ein Moment.
Morgens, wenn ich aufstand ins Badezimmer oder zur Toilette ging, war er schon wach, seine Tür stand offen, graues Tageslicht beschien den dunklen Flur und wir grüßten uns. Meist war sein Notebook aufgeklappt, auf das er, Zigaretten rauchend, blickte. Öfters fragte ich ihn, ob er auch ein Kaffee von mir wolle – doch ich war zu spät, er wollte lieber Filterkaffee, den sein Mitbewohner in aller Frühe kochte. Der Filterkaffee war ein Verbindungsglied zwischen ihm und Ra., meinem anderen Mitbewohner.
Werner ist tot – mir blieb kaum Zeit ihn näher kennenzulernen. Seit November wohne ich hier. Werner war schon vorher krank, aber, so hörte ich, es stand mit ihm schon einmal schlimmer. Wi., die Freundin von Ra., sagte mal, Werner sei unverwüstlich.
Ende April soll seine Asche in einer Urne, die sich im Laufe der Zeit auflösen wird, in die Erde gelassen werden.
Wohin ist sein Lächeln gegangen, welches ich auf dem Foto vor mir sehe?
Ich fragte meinen Mitbewohner, was er glaubt, wohin die Seelen gehen würden, ob sie irgendwo blieben und uns eventuell beobachten. Er sei Marxist, unbeantwortete er mir meine Frage; die Fragestellung allein sei ihm schon zu esoterisch. Er setzte noch hinterher, nachdem er einen Schluck vom Rotkäppchen Wein genommen hatte, dass Werner auch unreligiös gewesen sei. Aber, konterte ich grinsend, meine Frage sei durchaus materialistisch und von daher auch marxistisch gewesen. Eine Seele, oder was es auch immer sei, müsse doch Bedingung für ein Leben sein. Nichts Lebendiges könne ohne einen speziellen Lebenswillen existieren. Wo also, wollte ich von ihm wissen, bliebe dieses mysteriöse Unbekannte, es könne doch nicht einfach verschwinden. Er sagte mir, es wäre ihm höchst unangenehm, wenn Werners Seele ihn, wohlmöglich bei Intimitäten, unerkannt beobachten würde. Ich gab ihm recht, solch eine Vorstellung wäre mir auch unheimlich.
Werner ist tot. Wie lange dauert das Leben einer Eintagsfliege? Ich meine, wie lange ist eine Eintagsfliegenzeit? Ist eine Sekunde ein Fliegentag, ein Fliegenflügelaufschlag wie eine Fliegenewigkeit?
Ist unsere Lebenszeit ein Wimpernschlag im Auge des Universums?
Es begann alles im grauen Hamburger Winter, als der Regen kein Ende nahm. Werner bekam Husten, erst war er leicht, dann wurde so stark, dass wir aufmerksam wurden. Ich hatte auch Husten – wir unterhielten uns darüber – meiner ging zurück, seiner hingegen bohrte sich tief in seinen Körper. Ich machte Obstsalat, füllte ihm eine Schüssel voll, in der absurden Hoffnung, einige Vitamine könnten vielleicht das Problem in den Griff bekommen. Sein Husten wurde stärker, breitete sich aus – später hörten wir die Diagnose; es wurde eine Lungenentzündung daraus. Dann ging alles ziemlich schnell, er lag regungslos auf seinem Bett, ein Notarztwagen schaffte ihn ins Krankenhaus, wo er, weil mittlerweile auch andere Organe ausfielen, ins künstliche Koma versetzt wurde. Künstlich ernährt, an einem Maschinenpark angeschlossen und ohne Bewusstsein – das waren seine letzten Tage.
Werner starb in jenem Moment, als Wi. sich neben seinem abgemagerten Körper ins Bett legte, ihn streichelte und ihm die Wangen küsste – er starb, als sie zu ihm sprach, er dürfe jetzt loslassen und gehen. Mit welchen Ohren hatte er ihre Stimme vernommen? Es musste ein anderes Bewusstsein gewesen sein, als das, was wir kennen, mit dem er für sich entschied, diese Welt als Werner endgültig zu verlassen.
Werner ist tot, wie fürchterlich das klingt – vielleicht wird er wiederkommen, als jemand anders, vielleicht in einem anderen Körper und ohne die Erinnerung, dass er einmal Werner war. Vielleicht wird er irgendwann wiederkommen und seine Geliebte, die ihn verlassen hatte, wieder treffen und beide werden nicht wissen, warum sie nun unzertrennlich sind, nicht wissen, dass der Ursprung dafür sich im Werner-Zeitalter befand. Vielleicht sind all unsere Seelen, die wir nicht kennen, aber Bedingung dafür sind, dass wir leben – vielleicht sind sie ewiger, unendlicher als unsere Körper, vielleicht verhalten sie sich genauso wie das Universum.
Werner ist tot. Und als er starb, klarte sich ungerechter Weise, nach all der langen Zeit seines Hustens, der Himmel wieder auf. Die Sonne beschien die Stadt mit gesunden Strahlen und das Grün und neues Leben brach aus den Zweigen. Die Menschen trauten sich aus ihren Wohnungen und Lächeln und Sonnenbrillen waren mit einem Male in ihren Gesichtern zu sehen. Rosen habe ich neben seinem Bild gestellt, ein Stück Sonne, die ihm fehlte. Im Regal steht die Tüte H-Milch, die er mir einmal gab, ich schaue auf das Haltbarkeitsdatum – es hat ihn überlebt.