Da saß er aufrecht im Lotussitz: Sein rechtes Auge geschlossen, das linke ausgehöhlt, seine beiden Unterarme abgefallen, genauso wie sein Leben.
Eine ergreifende Wirkung. Nach 280 Jahren hatte man ihn wieder ausgegraben und ans Licht geholt – „ihn“,den mumifizierte Mönch.
Kein „Ich“ ist bei ihm mehr vorhanden und nichts wäre mehr wahrnehmbar, wäre dieser Mönch in all den Jahren zu Staub und Asche zerfallen. So aber sitzt er aufrecht und benimmt sich wie ein Schlafender, der wieder erwachen könnte. Etwas Geheimnisvolles umgibt ihn, sein ewiges Schweigen erregt die Phantasie.
Diese Stille, diese Regungslosigkeit, dieses für immer verschlossene, versteinerte Gesicht sucht nach Antworten, die nur er geben könnte. In ewige Leere hat er sich geflüchtet, dorthin, wo, wenn wir ihn befragen wollten uns nur selbst die Frage stellen können. Dadurch, dass er als Abbild eines Menschen noch vorhanden ist, berührt er mich. Wie zart, wie gasförmig, so denke ich, muss sein Leben, an jenem Tag vor 280 Jahren, als er beschloss, in eine nicht zurückkehrende Meditation sich zu begeben, aus ihm entwichen sein.
Und ich, der weit nach ihm geboren ist, erblicke ihn in dieser Haltung auf einem Foto in einer Zeitung und schreibe nieder, was ich dadurch empfinde. Nun lebt er wieder durch mich, lebt durch die Empfindungen meiner Betrachtung.
Das ist die Macht des Fotos: es bewegt sich nicht, es spricht nicht. Sobald ich eine Fotografie aus vergangenen Zeiten betrachte, wird mir die Leere des eingefangenen Augenblicks bewusst, die ich nur mit meiner Phantasie füllen kann.
Die Fotografie meiner Mutter, sie sitzt auf einem Stuhl im Garten, trägt einen Hut, der sie vor der Sonne schützt. Auch ihr Lachen, das sie für dieses Foto tat, ist gefangen. Ich höre ihre Stimme, ich glaube sie zu hören, mit der sie mich als Kind rief und erinnere mich an ihre Eckzähne, die oftmals, wenn sie den Mund schloss, sich erst später verdeckten.
Vor langer Zeit schon ist sie aus dem Leben gegangen. Die Schichten der Zeit haben sich über die Erinnerungen gelegt. Jetzt wo ich das Foto wieder sehe, kehrt eine Vergangenheit zurück, die es so nie gegeben hatte. Das Gesicht meiner Mutter, das ich wieder sehe, ist meine Einbildung, aus dem etwas Neues entsteht. Sie – meine Mutter und auch die Vergangenheit – ist nicht das, was sie einmal war, sondern eine Geschichte, die ich neu erzähle.
Wir sind dazu verdammt, niemals einen Moment zurück holen zu können, denn unsere Erinnerungen sind vielleicht schön, aber dennoch trügerisch.
Das Foto ist leer – leer auf eine besondere Art, weil es mir, dem Betrachter, erlaubt alles hineinzulegen. Wollte ich Vergangenes aufschreiben, könnte ich niemals objektiv sein, ich schriebe es gefärbt aus dem „Jetzt“ auf. Das ist das Problem von Biografien oder das Erzählen von historischen Ereignissen – sie können nie stimmen.
Stumm stehe ich vor einem vergilbten Foto aus dem Jahre 1910 : Eine Gruppe von Menschen posieren in einem eingefangenen Augenblick. Das Lächeln eines Mannes, dahinter ein unaufgeräumtes Regal – ein Zeichen von Leben. Die Gruppe sitzt um einen Tisch, ein kleines, junges Mädchen, gewiss vor längerer Zeit verstorben, blickt in die Kamera.
Eine Frau beugt sich zu einem Mann. Ist es die Ehefrau? Was ist aus ihrer Ehe geworden und wie haben sie wohl ihre letzten Stunden verbracht? Vielleicht sind es die Eltern des Kindes, das so klein und unschuldig in die Kamera schaut. Vielleicht wollten die Eltern für alle Ewigkeit schützend ihre Hände über ihr Mädchen legen und wollten nicht, dass ihr was Schlimmes passiere.
Doch die Zeit ist eine Mörderin, reißt alles nieder, raubt den Eltern die Kraft der Liebe, mit der sie das Kind hätten halten können, raubt dem Kinde auch die Jugendlichkeit, nahm sich auch noch die Kinder und Kindeskinder dieses Mädchens, das mich aus dem Bild unschuldig und hoffnungsvoll anblickt. Ich bin weit in ihre Zukunft vorgedrungen und blicke in die Küche hinein, einer Küche in einem Haus, das es schon lange nicht mehr gibt. Beklommenheit macht sich in mir breit, dass einst, in hunderten von Jahren, ein Nachfahre ähnlich mein Abbild auf einem Foto erblicken könnte.
Der Tod hat eine Geschwindigkeit, die nicht gemessen werden kann. Zurück bleibt das Foto von dem, was einmal war. Je unbeweglicher und länger ich davor verweile, desto mehr bewegt es sich und verrät mir eine Geschichte. Die Verstorbenen sind hinausgeschossen ins Irgendwo doch die Lebenden halten den Strom im Gange. Zu jeder Geschichte, die einmal war, wird etwas dazu gesponnen – eine Wahrheit gibt es nicht.
Solange ich bin, trage ich die Welt auf meinen Schultern, forme ich sie in diesem Moment, wo ich hier sitze und es aufschreibe. So wie alles Leben im Universum, sich auf der kleinen Erde versammelt, so bündelt sich alles Leben in diesem kurzen Augenblick – alles was danach geschieht gehört zu einer anderen Epoche.
Ich will nichts über meine Zukunft wissen.
Saluti,
— Mazoni —
Das Foto ist wie ein Gedicht: Eine Momentaufnahme. Das Leben aber ist ein Film und wenn wir nur das Foto sehen, fragen wir uns, wie wohl der ganze Film des Lebens ausgesehen hat oder haben könnte: Deine Assoziationen aus Erinnerung und Fantasie gefallen mir: Du schaust ein Bild an und deine Fantasie schreibt ein Drehbuch dazu und du findest sogar die passenden Worte in einem Stil, der nicht unberührt lässt. Schön, von dir zu lesen .. 🙂
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Ich danke Dir für Deine ebenso tollen Worte, lieber PP. Ciao, Kadee
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