… ist er verschwunden: Stefan Zweig. Ich bin ins Kino gegangen, kaufte mir im Foyer Weingummi und setzte mich in die fünfte Reihe. Meistens sitzen die Zuschauer hinten, ich nicht: für mich spielt das Kino ganz vorne. Weingummi muss dabei sein seit ich zehn Jahre alt war und mit diesem süßsauren Geschmack auf Zunge und Gaumen sah ich Winnetou sterben, George Taylor in “Planet der Affen“ an der Freiheitsstatue vorbeireiten, sang ich in „ Rocky Horror Picture Show“ mit, war ich Freund von McMurphey in „Einer flog übers Kuckucksnest“ , verfluchte Sister Ratched, liebte Archibald Harry Tuttle, den Klempner in „Brazil“ – ich war mit diesem Geschmack im Mund auf dem Trip in „Fear and Loathing in Las Vegas“, ich schluchzte in „Last Exit To Brooklyn“, es drückte mich „Mulholland Drive“ tief in den Kinosessel … Ich weinte, lachte, es machte mich traurig, es machte mir Mut, es machte mich rasend – Götter und Helden, Tragik und Drama, Liebe und Verzweiflung – wenn all dies nicht geschah, wenn die Emotionen nicht überschäumten, war der Kinobesuch, zumal ich nahe an der Leinwand saß, wie eine Niederlage des Tages.
Und gestern: die Verfilmung über Stefan Zweig: ruhig emotionslos und selbst in der Schlussszene, zu seinem Selbstmord, benetzte keine Träne das Auge. Ein stiller Film. Stille kann Spannung erzeugen, aber das war der Film nicht – eher eine deutsche Trägheit, die Leere zurücklässt.
Das Gefrorene in uns brechen; dieser kafkaeske Gedanke kam in mir auf, als die Szene kam, wo Zweig 1936 in Buenos Aires im PEN Club saß. Meine Tüte knisterte, ich steckte mir ein Gummi-Tierchen in den Mund. Was wird er sagen, was wird er erwidern?
Es ist bekannt: Zweig wollte nicht gegen das Nazi Regime reden, schon gar nicht, wo er sich im Exil in Sicherheit wog. Er wollte sich nicht politisch einbinden lassen – was er wollte, war schreiben aus einem positiven Gefühl heraus, die gefrorenen Herzen mit Worten zum Schmelzen bringen. Maria Schrader, die Regisseurin, schienen die Empfindungen Stefan Zweigs, in einer Zeit tiefer Finsternis, kalt zu lassen und setzte den Film wie eine träge Maschinerie fort. Spätestens jetzt begann ich mir Sorgen um Zweig zu machen. Jede Dokumentation über ihn war leidenschaftlicher, als das, was mir hier geboten wurde. Überhaupt scheint Maria Schrader mich mit inhaltsleeren Filmen, über Autoren, die ich sehr schätze, verfolgen zu wollen. Letztes Beispiel war „Liebesleben“ von meiner Lieblingsautorin, der wort – und sinnesgewaltigen Zeruya Shalev. Was sie aus dem Buch machte, war eine Vergewaltigung hinein ins Spießige. Warum sucht sich Schrader Getriebene aus ohne das Getriebene darstellen zu wollen? Warum schuf sie diesen Film über Stefan Zweig, der von den Bildern sehr schön ist, von dem Inhalt aber relativ banal? Gerade Stefan Zweig, der Suchende, der Sensible, der Schaffende, der noch bis zu seinem Selbstmord an der Schachnovelle schrieb, der, so müsste man meinen, diese Novelle zu Ende bringen wollte, bevor er aus dem Leben schied. Was geht in einem Menschen vor, der sein Kostbarstes, was er besitzt, sein Leben, wegwirft wie ein Abfallbeutel, aber den letzten Satz, den letzten Punkt seines Werkes vorher noch festhalten möchte? „Die Schachnovelle“ ist ein Meisterstück und lässt nichts an literarischer Kraft vermissen. Auch nicht wenn Zweig in seinem Abschiedsbrief schreibt, „ … nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft.“
Von Erschöpfung von Leiden dieses Mannes ist in dem Kinostreifen nichts zu spüren, schon gar nichts von dem Literarischen, was ihm letztendlich noch wichtiger war, als sein Leben. Er sitzt und schreibt in der grünen brasilianischen Hölle – lobt das Land, über das er ein Buch verfasst. Ja, er begeistert sich für Brasilien, das für ihn ein Land der Zukunft sei, wo verschiedene Rassen, Kulturen und Religionen friedlich und ohne gegenseitigem Hass miteinander leben. Brasilien ist für ihn die Morgenröte, ist für ihn das Beispiel wo verschiedene Menschenfarben sich vermischen und neue schöne Menschen hervorbringen. Er ist auf Spurensuche zu seinen Gastgebern, versucht ein Land zu erkunden, das größer ist als Nordamerika. Literatur ist ewige Suche nach dem was noch nicht ist, was aber vielleicht werden kann. Literatur ist Werden, ist Entstehen und Schaffen, Literatur wird für eine Menschheit geschrieben, die es noch nicht gibt, ist eine Sprache, die erst noch gesprochen werden muss. Wie saß er da an einem Tisch, in einer Holzhütte, als er sein letztes Stück schrieb, welches fern ab vom Dschungel handelte ? Er lernte Schach spielen, nicht des Spieles wegen, sondern des Werkes an dem er schrieb. Und so spielte er Partien von Meistern des Schachs nach und schrieb und schrieb und hatte zugleich das Veronal in seinem Kopf, das er bald zusammen mit seiner Frau nehmen wird. Dann der letzte Punkt, einen Tag vor seinem Tod verschickt er die Typoskripte der Schachnovelle. Das Werk ist getan; es wird das bekannteste und bedeutendste sein, was er geschaffen hat. Doch den Ruhm darüber wird er nicht mehr erleben. Glanz und Glorie sind ihm egal geworden, friedlich, wie Schlafende, liegen seine junge Frau und er im Bett seines Hauses, umgeben vom Dschungel von Petrópolis. Frau Schrader wo sind sie? Nichts von all dieser Verzweiflung scheint Sie zu interessieren.
Es folgt der Abspann, dezente Musik ertönt, ich bleibe noch sitzen bis das Licht angeht. War es ein guter Film? Ich bin mir unschlüssig; er war weder gut noch schlecht – eher mittelmäßig, eher deutsch. Im Bett liegend, fing ich an, sein Brasilien Buch zu lesen – also hat der Tag doch was gebracht und ist nicht zur Niederlage geworden.