Der Popel als Erinnerung an die verlorene Zeit

Jahre über Jahre ist es her, da hielt Heinz einen Vortrag über interessante, politische Dinge und wir hörten ihm dabei fasziniert zu. Was er zu sagen hatte, war enorm wichtig – so jedenfalls empfand ich es damals – wenn Heinz sprach, war es von Bedeutung. Doch dann passierte etwas, was seinen Inhalt gänzlich relativierte: Im Eifer seiner Rede löste sich aus seiner Nase ein dicker, fetter, schleimiger Popel, den er, als er ihn bemerkte, wegwischte und, weil kein Taschentuch vorhanden war, ihn sich – mit der linken Hand die untere Gesichtshälfte verdeckend – mit der rechten Hand in seinen Mund schob und herunterschluckte. 

Vielleicht glaubte er, niemand würde es bemerken – alles ging ziemlich schnell – aber ich tat es, meine Aufmerksamkeit war vollends auf diese Altion gerichtet und weg von dem, was er noch weiter sprach.

Jetzt noch – eine gefühlte Ewigkeit später – wenn ich an Heinz denke und mir sein Gesicht vorstelle, sehe ich auf seiner Oberlippe diesen grünlich-gelben Fleck kleben. Mir ist, als gehöre dieser Popel zu seiner Persönlichkeit, als würde er sich immer wieder neu bilden, als wäre Heinz nichts anderes als eine Person, die sein Naseninneres immer wieder aufs Neue verdaut. 

Tragisch, dass Heinz nicht ahnt, wie ich ihn sehe und sich gewiss nie daran erinnern wird, was er an jenem Tag, die meine Sichtweise zu ihm veränderte, tat. Es wäre sehr absurd ihm zu schreiben, dass, wenn ich an ihn denke, immer diese Situation vor meinen Augen hätte. 

Erstaunlich ist es, dass ich alles, was er einst sagte, vergessen habe, dass ich nicht einmal mehr ansatzweise weiß, um welches Thema es sich handelte, obwohl es doch so wichtig war. 

Interessant auch, dass sich die Worte in der Erinnerung viel schneller verlieren, als das Äußerliche. Ich erinnere mich an das Klack Klack ihrer Absätze, wenn sie meinen Raum betrat, an ihr Kleid, an ihren Lippenstift, erinnere mich genau an die Formen ihres Gesäß … Doch weiß ich noch jedes Wort, was sie sprach? Es sind nur wenige Worte der Erinnerung, Worte die wie scharfe Klingen, Worte, die wie Explosionen sind.

Heinz‘ Popel ist immerhin die Brücke hinein in eine Zeit, die, ohne dass dieser an seiner Oberlippe geklebt hätte, wahrscheinlich vergessen gewesen wäre. Heinz, wenn er sich im Spiegel betrachtet, würde sich niemals so sehen, wie ich ihn sehe, würde sich als was anderes erkennen. Aber so ist es wohl immer: jeder von uns ist für den Anderen ein Fremder. 

1 Comment

  1. Der Text, dieser Popel, wirkt im ersten Moment ekelig. Deswegen musste ich auch öfter lesen.
    Aber dann erkannte ich! Das ist es eben, so sind wir Menschen! Wir sehen nur den Popel, alles andere vergessen wir.

    Ein kleiner Fehler unbedeutender und man verbleibt auf Ewig in diesem Bild.

    Gefällt 1 Person

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