Die Maske gehört zu mir …

Man solle keine Maske tragen, sondern ehrlich und authentisch sein – so hört man es von überall her. Sei du, fordert man uns auf; versuche herauszufinden, wer du im Grunde deines Herzens bist. Die Medien sind voll mit derlei Weisheiten und Sprüchen. Und immer geht es darum: du musst dich ändern; am besten dorthin, wer du wirklich bist.

Wie erfrischen wirkt es da, wenn Rimbaud sagt:“Ich bin ein Anderer.“

Wie auch soll es möglich sein, in den unendlichen Abgründen seiner Selbst, den Kern des Seins zu finden?

Ich habe Bewusstsein und besitze die Möglichkeit, ein Bild von mir zu machen. Doch dieses Bild bleibt trügerisch, denn ich werde nie in der Lage sein, all mein Denken und Fühlen in die Außenwelt zu tragen, demzufolge die anderen ein anderes Bild von mir haben. Selbst wenn ich spreche – man kennt es von Tonaufnahmen – ist der Klang meiner Stimme, die ich in mir trage, eine andere als die in der Außenwelt.

Ich bin ein Anderer, wenn ich an der Kasse mit der Kassiererin kommuniziere, ein Anderer, wenn ich mit Freunden rede. Das Schöne am Sex ist nicht, derjenige zu sein, der man in der Gesellschaft ist, sondern erregend ist es, eine Art Tier zu werden. Im besten Fall sind wir im Orgasmus Andere und haben gesellschaftliche Konventionen entgrenzt.

Vielleicht ist das das Problem der Psychiatrie: nicht die Notwendigkeit anzuerkennen, dass man verschiedene Masken benötigt.

Als ich „Serena“ schrieb war ich weder die eine noch die andere Figur in dem Roman – ich war nur ein Anteil davon, eine Vielheit. Genauso wie jetzt in dem Roman „Africa“. Wenn ich mich hinsetzte und schreibe setzte ich mir eine Maske auf, um überhaupt Worte rausbringen zu können. Der Akt des Schreibens ist ein Werdungsprozess – ich schreibe aus dem heraus, der ich noch nicht bin; ich befinde mich nur auf dem Weg. dorthin

Als man Henry Miller fragte, ob er das, was er schrieb, wirklich alles erlebt habe, antwortete er knapp: es sei ein Roman. Bei ihm ist das „Ich“, mit dem er schreibt, eine Kunstfigur.

Nietzsche setzte sich die Maske des Dionysos auf, nur so war er, der mit Krankheiten zu kämpfen hatte, in der Lage eine Philosophie der Gesundheit und des Lebens zu entwickeln.

Keine Frau wird als Mutter geboren, sie wird es erst, wenn das Kind zur Welt kommt. Sie ist aber auch eine Liebhaberin, eine Professorin, eine Sekretärin, ein Freundin, eine Tochter, ein Mädchen, eine Weltbürgerin. Der Vater könnte vielleicht ein Säufer sein, aber wenn er nach Hause kommt, ist er ein braves Familienmitglied.

Kleidung machen Leute – doch nicht nur das, sie verändern auch das Selbstwertgefühl. Wer häufiger sein Aussehen verändert, wird spüren, wie sich was verändert. Die meisten Jugendbewegungen waren durch Fashion geprägt – durch eine besondere Kleidung, die sich von der Norm abhebt – sei es Punk, Gothic, oder Rock n Roll, erst durch das Aussehen, durch die Maske konnte was Neues entstehen – an der Bruchstelle von gestern zum jetzt ereignet sich was. Ja, das ist das Verhängnis der Psychologie; dass sie ständig auf das Innere verweist oder auf die Vergangenheit, auf die Kindheit.

Das große ICH und das kleine ich (Moi und je), davon spricht Kant. Das Moi, nachdem irrsinniger Weise gesucht wird, ruht wie ein körperloses Organ in uns, ist passiv und nimmt nur auf, ohne sich in irgendeiner Form zu verändern. Das kleine „je“ hingegen, ist unentwegt der Veränderung durch die Zeit ausgesetzt und produziert ständig, was in der Zeit geschieht. Während das Moi still in einem ruht, entfernt sich das kleine ich – Moi und je sind durch die Zeitlinie getrennt. Nochmals Rimbaud: „Schlimm genug für das Holz, das als Geige erwacht … Wenn das Kupfer als Trompete erwacht, ist es nicht seine Schuld.“

Es ginge gar nicht: wenn wir alle Masken ablegen und zu dem Moi vorstoßen könnten, wären wir quasi tot. Weder könnte uns das ICH etwas sagen, noch könnte es atmen oder handeln. Es wäre eine Aufforderung, die nicht machbar wäre und nur zur Verzweiflung triebe.

Warum immer der Verweis auf die Innerlichkeit, warum immer auf die Tiefe, als wollte man uns begraben? Run, Baby, run – auf der (Erd-) Oberfläche spielt sich das Leben ab. Alles geschieht dort, wo sich was mit anderem verbindet – sei es Frau mit Frau, Frau mit Mann oder seinen es Rassen. Die Maske kann ein probates Mittel sein, um aus dem Alten zu etwas Neuem zu sprechen – ein Mittel kann sie sein, um das Denken zu etwas anderem hin zu lenken. Die Masken suchen, die wie ein Kleidungsstück die Haut umschmeicheln –  immer neue Masken der Liebe finden.

Und siehe, jetzt wo ich das hier schreibe, bin ich ein Anderer, ein Agitator, ein Läufer, mit einer zerfetzten Fahne in der Hand, keuchend nach Luft schnappend. Jetzt renne ich wie Jesus übers Wasser und schreie in den Himmel: lass es Masken regnen, unendlich viele – ich setzte sie alle auf.

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